Harmonia & Eno 76′
Magische Momente erzeugt man nicht per Knopfdruck, sie entstehen einfach so aus Zufall. Die Musiker von Harmonia ereilte so ein Moment völlig unerwartet im Spätsommer 1976. Zwei Alben lagen zum damaligen Zeitpunkt hinter der Band, „Musik von Harmonia“ (1974) und „Deluxe“ (1975). Beide Werke gelten heute als Klassiker des Krautrock und der elektronischen Musik, doch danach endeten die gemeinsamen Planungen. Alle drei Musiker waren rastlos und entwickelten Ideen für Soloplatten. Michael Rother verwirklichte sie mit „Flammende Herzen“, Hans-Joachim Roedelius mit „Durch die Wüste“ und Dieter Moebius mit „Lilienthal“. Doch dann trat ein gewisser Brian Eno auf den Plan.
Harmonia gab es schon gar nicht mehr – bis Brian Eno kam und fragte „Passt es jetzt?“
Er wusste längst über Harmonia Bescheid, hatte sich 1974 sogar mal spontan in ein Konzert der Band in der Fabrik in Hamburg eingeklinkt. Die Musiker bekundeten sofort Interesse an weiterer Zusammenarbeit und tauschten Nummern aus. Zwei Jahre später meldete sich Eno telefonisch bei Harmonia und fragte: „Passt es jetzt?“ Die Antwort: Hm, eigentlich nicht so ganz… – denn wir haben uns als Band gerade aufgelöst – ähem, ja, natürlich passt es!
Eno war damals gerade auf dem Weg nach Montreux, um mit David Bowie an „Low“ zu arbeiten. Der Mann kannte sich aus in der Hautevolee der Rockmusik, trat im Studio auf dem Land in Forst im Weserbergland aber sehr bescheiden auf.
„Eno kam überhaupt nicht wie ein abgehobener Rockstar daher, war im Gegenteil sehr angenehm und interessiert. Wir trafen uns auf Augenhöhe und waren ein Kollektiv, das einfach Lust hatte, Musik zu machen, frei von kommerziellen Hintergedanken und dem Zwang, ein Album aufzunehmen. Für mich sind das die schönsten Arbeitsbedingungen, die man sich vorstellen kann“, meint Rother.
„Mit Eno kam ein Geist mit großer Offenheit, unendlicher Spielfreude und einem enormen Fundus an Erfahrungen im Bereich populärer neuer Musik ins Spiel, und das hat offenbar die bereits verschlossene Tür öffnen können“, ergänzt Roedelius. Trotzdem hat die Öffentlichkeit lange nichts von diesen Aufnahmen gehört, zum Teil deshalb, weil sie nicht für kommerzielle Zwecke bestimmt waren, zum Teil aber auch deshalb, weil die Originalbänder bei Eno lange Zeit als verschollen galten. Zum Glück hatten sich Roedelius und Rother Kopien von den Vierspurbändern gemacht.
Die Bänder zu den Aufnahmen galten lange als verschollen.
1997 erschien aus heiterem Himmel das Harmonia-Album „Tracks & Traces“ mit Ausschnitten aus den sagenumwobenen 76er-Sessions. Roedelius hatte das in seinem Besitz befindliche Material sondiert und in einem aufwändigen technischen Prozess editieren lassen. „Ich habe nichts anderes getan, als das Urmaterial (eines der insgesamt drei Vierspurbänder, die wir damals vollgespielt hatten) mit österreichischen Toningenieuren technisch so zu verbessern, dass man die Tracks auch anderen Hörern als uns zumuten konnte“, erinnert sich Roedelius. „Aufgrund von Disharmonien in der Band hat Achim damals die Musik im Alleingang zusammengestellt“, präzisiert Rother. „Die neun Titel aus dem Jahr 1997 sind daher in der atmosphärischen Gewichtung auch Ausdruck seiner Persönlichkeit. Möbi und ich waren über Achims Alleingang nicht froh, mussten aber zugeben: Haste gut gemacht! Immerhin: Wir haben uns dann noch über die Titel und das Artwork verständigt, Möbi und ich waren also in gewisser Weise involviert (lacht). Gegen die Musik aber gibt es überhaupt nichts zu sagen, sie ist wundervoll.“ Dem kann man nur beipflichten. Forsch rauscht in „Vamos Compañeros“ ein Groove in Gestalt eines sich wiederholenden Dampflok-Sounds heran. Nach dem idyllischen Abstecher „By The Riverside“ geht es sogleich in eine experimentell-abstrakte Phase mit düsterem Unterton über. Man hebt den warnenden Zeigefinger: „Don’t get lost on Lüneburg Heath!“ Nach einem „Weird Dream“ hellt sich die Stimmung wieder auf, vernimmt man wärmere, pop-ähnliche Akkorde und die von späteren Arbeiten Enos bekannte, hier jedoch von Rother gespielte Slide-Gitarre. Aber natürlich war das nicht alles.
Auch bei Michael Rother gab es noch eine Band-Kopie.
Rother hatte ja auch noch seine Kopie in der Hinterhand, die seit 1976 bei ihm im Studio lag. Eines Tages entschloss auch er sich, die darauf enthaltenen Fragmente, 27 an der Zahl, zu digitalisieren. Daraus ließe sich womöglich ein ganzes Album machen, aber man verständigte sich darauf, drei Stücke als Ergänzung für die Wiederveröffentlichung des 97er Albums zu verwenden. „Zuerst habe ich mich gefragt, was ist musikalisch sinnvoll, welche der vielen Stücke gefallen mir besonders und reflektieren die musikalische Bandbreite unserer Zusammenarbeit mit Brian Eno am besten. Im zweiten Schritt ging es darum, die ausgewählten Stücke richtig in das bereits existierende Album zu integrieren. Ich schlug vor, sie nicht wie üblich als Bonustracks ans Ende zu stellen, sondern Aufbau und Abspielfolge zu verändern. Zum Glück waren alle Beteiligten damit einverstanden.“ Mit dem Entree „Welcome“ und dem anschließenden Track „Atmosphere“ baut sich das Album nun langsam auf, bevor es mit „Vamos Compañeros“ in der gewohnten Form wieder Fahrt aufnimmt. Am Ende verstärkt „Aubade“ den Eindruck eines versöhnlichen Ausklangs.
Und wie man an „Harmonia & Eno 1976 – Tracks and Traces“ sieht, verblasst Qualität unter diesen Umständen nicht. Auch Jahrzehnte später nicht.
Also: Auf Spurensuche machen, bitte!