Máni Orrason
Es gibt Alben, die funktionieren ein wenig anders in ihrer Rezeption. Sie verweigern sich den klassischen Fragen der Pop-Kritiker:innen: Taugt das Songwriting? Wie ist die Gesangsperformance zu bewerten? Welche Schauwerte hat die Produktion? Man denke da an eines der besten Beispiele für diese These: „Carrie & Lowell“ von Sufjan Stevens. Zu großen Teilen mit einem Smartphone aufgenommen, brüchige Stimme, kaum mehr als Gitarre und Gesang, aber himmelhilf – wie intensiv einem diese Platte das Herz aufreißt! Auch beim neuen Album des in Island geborenen und in Berlin lebenden Singer/Songwriters Máni Orrason denkt man eher über schwer greifbare Worte wie „Aura“, „Atmosphäre“ und – Gott bewahre – „Authentizität“ nach.
Das beginnt schon in den ersten Sekunden von „Blue Skies Motel“: Wir hören gut 80 Sekunden der Single „Adore You“. In einer Version, die Orrason „(sleepy)“ nennt. Das ist – vorsichtig formuliert – mutig, weil man ja emotionale Musik ungern mit Schläfrigkeit in Verbindung bringen will. Genau hier macht diese angespielte Songskizze aber voll Sinn: Schon der Klang von Orrasons Gitarrenspiel setzt die melancholische Stimmung des Albums, intuitiv scheint er die richtigen Akkorde zu greifen, seine Stimme ist erst vorsichtig, suchend, zart, bis sie zum ersten Mal die richtigen Worte, die richtige Melodie schmecken und das alles in der Art, wie er „I adore you“ singt, perfekt zusammenkommt. Man merkt schnell, dass dieser ungewöhnliche Einstieg eher wie eine Bedienungsanleitung zu lesen ist. Oder, weil das ein wenig bürokratisch klingt: wie eine Einladung – in seine engsten Kreise, seinen Arbeitsprozess, die intime Umgebung seines Studios.
Man trifft Maní Orrason am besten ganz in der Nähe dieses Studios. Er ist einer der zahlreichen Künstler, die schon seit Jahren einen Proberaum im alten Funkhaus in der Nalepastraße in Berlin haben. Die ursprünglichen Radiostudios der DDR sind seit Mitte der 2000er eine beliebte Adresse für Musiker:innen – der bekannteste dort residierende dürfte sicher Nils Frahm sein. Beim Interview im Biergarten des Funkhauses an einem schönen Spätsommertag, erzählt Orrason: „Bei vielen dieser Songs war es tatsächlich so, dass ich gleich morgens nach dem Aufwachen Musik gemacht habe. Also noch vor dem ersten Kaffee und bevor ich meine Kontaktlinsen eingesetzt habe. Ich drückte auf ‚Record‘, spielte Gitarre, dachte nicht wirklich nach, was ich da tat und fing an zu singen.“ Er sei dabei in einer Art „Traumzustand“ gewesen, in dem sein Unterbewusstsein noch sehr aktiv gewesen sei. „Mein rational denkender Teil des Gehirns, der versucht Entscheidungen zu treffen oder zu editieren, ist da noch nicht sehr aktiv. In diesem Zustand kommt es mir vor, als fiele es mir leichter, interessante Dinge zu sagen oder zu singen.“ Später habe er sich diese Aufnahmen dann angehört, die Worte aufgeschrieben, versucht eine Bedeutung darin zu finden – und schließlich mit dem Prozess des konkreten Editierens und des Songwritings begonnen.
Wenn man die neun Songs plus „(sleepy)“-Skizze von „Blue Skies Motel“ hört, versinkt man schnell in dieser besonderen Stimmung – und fragt sich, verloren in wunderschönster Wehmut, irgendwann mal: Hä? Ist DAS denn eigentlich der Maní Orrason, den ich glaubte zu kennen? Klar, der Isländer konnte schon immer gut mit melancholischem, emotionalem Songwriting. Man denke nur an seine frühe, pianolastige Single „I Woke Up Waiting“, die zugleich Titelsongs des gleichnamigen Albums ist. Oder an das wundervolle „Whit Slugs“, das seine letzte Platte „THE WORLD IS BIG AND YOU WILL NEVER FIND ME“ auf leise Weise abschloss. Aber die waren halt immer eher die Ausnahme. Gerade dieses letzte Album hatte schillernde Electropop-Banger wie das mit Drangsal performte „I Don’t Wanna Be A Star“, Pop-Punk mit 80s-Vibe wie „Dreama“ und „Change The World“. Seine vielleicht bekanntesten Songs wie „I Swear It’s True“ und „Numb“ sind gern gesehene Beigaben in Playlisten wie „Feelgood Indie“, wo sie stimmungsmäßig durchaus reinpassen. Also, was war da los, dass er sich mal eben ein Stückweit neu erfunden hat? Máni Orrason erklärt es so: „Einige dieser Lieder entstanden noch bevor das letzte Album fertig war. Das muss so im Winter 2021 gewesen sein. Eigentlich ist der Albumcloser ‚White Slugs‘ auch schon einer dieser reduzierteren Songs – was im Rückblick einen sehr schönen Anschluss ergibt.“ Diese Stimmung und diese Art zu schreiben, sei für ihn etwas gewesen, das er weiter erforschen wollte. „Ehrlich gesagt, war es danach auch das Einzige, was für mich Sinn machte. Ich habe mich mit dem letzten Album irgendwie schwergetan. Es war so umfangreich und die Produktion und der Stil waren so ambitioniert. Es hat auch sehr lange gedauert, es zu finalisieren, und ich hatte das Gefühl, dass es mir schwerfiel, dieser Version von mir selbst gerecht zu werden.“ Die Bilder, Videos und Songs dieser Zeit zeigen einen extrovertierten, charismatischen Pop-Künstler, der ironisch mit den ganz großen Gesten spielt. Heute sagt Máni Orrason: „Als ich über mein tägliches Leben als Musiker nachdachte, über das, was ich tue, was ich denke und wie ich mich fühle, wurde mir klar, dass dieses Mit-einer-Gitarre-im-Studio-sitzen-und-leise-spielen gerade viel näher an mir dran ist, als diese ‚Larger than life“-Version von mir, die ich da auf dem Album und auch auf der Bühne zeigen wollte.“
Wer auf diese „leise“ Weise Musik macht, steht natürlich vor ganz anderen Herausforderungen. Das weiß auch Máni Orrason: „Ich hasse es, wenn die Leute sagen, dass jeder gute Song auch nur auf einer Akustikgitarre funktionieren muss. Aber für mich war das irgendwie der Standard. Man hat sehr begrenzte Mittel, es gibt so wenig Platz für Dinge, die deine Aufmerksamkeit erregen. Ich habe es geliebt, diese Songs zu schreiben. Man steckt so viel Mühe in jede Zeile, in das Gefühl hinter den Worten, in die Stimmung der Performance. Es ist so, als würde man ganz langsam ein Kunstwerk schnitzen, anstatt einfach schön klingende Dinge aufeinander zu stapeln, um es groß wirken zu lassen. Ich hatte das Gefühl, eine neue Stimme für mich als Songwriter zu finden.“ Máni Orrason sagt all diese druckreifen Dinge beim Interview übrigens auf eine eher beiläufige Weise. Fast kommt es einem so vor, als fände er auch die Gedanken zu seinen Songs auf die gleiche Weise, wie er die Songs selbst gefunden hat. Aber Orrason weiß auch um die Tücken dieses Sounds und dieser Arbeitsweise: „Es ist ein sehr schmaler Grat dazwischen, ein sensibler Mann zu sein oder einer dieser emotional-manipulativem ‚Emo Sad Boys‘ zu werden.“ So viel sei gesagt: In diese Falle ist Máni Orrason nicht getappt. Was auch daran liegen könnte, dass er eher das letzte Adrienne-Lenker-Album als die frühen Bright-Eyes-Platten als Referenz sah.
„Blue Skies Motel“ ist nach dem gleichnamigen Gedicht von Robert Creeley benannt, dass Máni Orrason in einer Anthologie amerikanischer Dichter:innen fand – ein Buch, das in seinem Proberaum einen festen Platz hat und ihm immer wieder Inspiration liefert. Das Gedicht des 1926 in Arlington, Massachusetts geborenen und 2005 verstorbenen Robert Creeley ist eine sehr pointierte, in freier Versform skizzierte Motel-Szene, durchzogen von einer Melancholie, wie man sie häufig in der Lyrik und Literatur New Englands findet. Eine Stimmung, die jener sehr ähnlich erscheint, die Máni Orrason da in seinem Funkhaus-Proberaum erschaffen hat. Wie auch Creeley serviert Orrason seine poetischen eingefangen Geschichten und Bilder mit dem Schmutz der Realität. „I Do“, Song 2 auf dem Album und eine weitere Single, sei der erste gewesen, den er für das Album geschrieben hatte. Und der sei von diesem Gedicht inspiriert gewesen, erzählt er: „Creeley beschreibt darin, wie er auf einen Kamin-Schornstein schaut, den er als ‚phallisch‘ empfindet und im Himmel Wolken sieht, die ihm wie ein Kissenstapel vorkommen. In dem Buch ist noch ein anderes Gedicht, wo er beschreibt, wie er schüchtern vor den Augen eines Lovers in ein Waschbecken pinkelt. Diese Szene fand ich faszinierend, deshalb ist sie so ähnlich in ‚I Do‘.“ Orrason habe aber vor allem das Konzept des Motels gefallen. „Ich habe mir vorgestellt, wie es ist, allein in einem Motel zu sein oder an verschiedenen Orten und aus dem Fenster zu schauen und Kinder zu sehen, die am Pool spielen, oder, du weißt schon, wie es ist, einsam zu reisen.“
„Blue Skies Motel“ könnte man tatsächlich wie die Reise eines jungen Mannes hören, der ein Weile durch die USA tingelt, in billigen Motels stoppt und dort über sein bisheriges Leben und Lieben sinniert. Dabei denkt er, wie im wundervollen „Crush“, an vergangene Berlin-Liebschaften zurück, die in jener nicht so gesunden Lebensphase passierten, die wohl jeder junge Mensch in seinen ersten Berlin-Jahren für eine Weile durchlebt. „So when I told you that I loved you on the Berghain floor / you got so weird, I really wished they stopped me at the door“, singt er darin. „Ich glaube viele Lieder kreisen um das, was ich jetzt manchmal meine ‚dark Berlin years‘ nenne.“ Die begannen für ihn kurz nach der Pandemie, als er eine lange Beziehung beendete. „Ich dachte mir: Jetzt ist es an der Zeit, auf alle Partys und in alle Clubs zu gehen! Das habe ich eine ganze Weile gemacht und bin sozusagen der Nacht hinterhergejagt. Statt permanenter Euphorie habe ich dabei aber oft eher eine gewisse Traurigkeit empfunden.“ Der Song „I Was On The Moon“ thematisiere dieses Gefühl des Come-Downs auch. „Du bist an all diesen spannenden Orten und auf all diesen Partys… Aber dann, was auch immer du da erlebt hast, gehst du zurück in dein kleines Zimmer und bist wieder ganz du selbst – und merkst, dass du dich eigentlich schon auf der Party einsam gefühlt hast.“ Aber es gibt auch aufbauendere Momente auf dem Album. „Adore You“ zum Beispiel – die Single, die wir schon als Intro hören – ist eine melodische Meditation, die immer wieder um die erstaunliche Erkenntnis kreist, dass man einen Menschen voller Liebe bewundern oder gar vergöttern kann. Wie Máni Orrason diese drei Worte betont, in pure Melodie verwandelt, und das „you“ dabei verträumt um ein paar Silben verlängert – das ist so simpel wie eindrucksvoll. Auch die dritte Single „She Calls Me Baby“ ist zartes, nachdenkliches Lied, das direkt unter die Haut und von da bis ins Herz kriecht.
Die Hörerfahrung von „Blue Skies Motel“ ist ein wenig so, als säße man für gut 40 Minuten mit Máni Orrason und seinem Mitmusiker-Co-Produzent Yannick Ernst in deren Proberaum und lausche einer sehr intimen Performance. Genau das habe Orrason erreichen wollen, sagt er – und sieht trotzdem keinen Widerspruch darin, dass er sich schon jetzt sehr auf die Konzerte zum Album freut. „Ich glaube, das werden ganz besondere Abende“, sagt er. „Ich habe schon einige akustische Konzerte in meinem Leben gespielt, wo ich das Gefühl hatte, ich sei zugleich Performer und Teil des Publikums.“ Mit diesem Album hätte er die perfekte Musik dafür gefunden, meint er – und man freut sich schon jetzt, diese Aussage bald vor einer Bühne bestätigt zu sehen.